Sprache und Integration


I/Aus einem Interview mit Elias Canetti 
(Wien, Dezember 1971)

 Auf dem Weg nach Wien, im Sommer, hat meine Mutter in Lausanne haltgemacht und hat mir in drei Monaten Deutsch beigebracht mit fast terroristischen Mitteln, damit ich gleich in die richtige Klasse aufgenommen werde in Wien. Also erst meine vierte Sprache war Deutsch. Als ich es lernte, war ich acht Jahre.

Es ist dann die Sprache Ihrer Literatur geworden.

CANETTI: Ja, die Sprache, in der ich zuerst geschrieben habe, denn ich bin ja von dieser Zeit an immer in deutschsprachigen Gebieten in die Schule gegangen. Ich war zuerst in Wien in der Schule, kam dann nach Zürich, habe in Frankfurt das Abitur gemacht und bin dann wieder in Wien auf die Universität gegangen. In Wien hab ich als Schriftsteller begonnen. Deutsch war die Sprache, in der ich geschrieben habe. Aber es kommen
auch persönliche Gründe hinzu. Für die Spaniolen, die auf dem Balkan lebten, war Wien der Kulturmittelpunkt. Die Familien, die es sich leisten konnten, haben ihre Kinder nach Wien auf die Schule geschickt. So haben mein Vater und meine Mutter in Wien Deutsch gelernt, waren immer im Burgtheater, waren begeisterte Theaterverehrer.

Was waren sie von Beruf?

CANETTI: Mein Vater war Kaufmann, meine Mutter war seine Frau, aber eine literarisch sehr interessierte Frau. Beide wären am liebsten Schauspieler geworden. Aber das wäre bei ihren Eltern unmöglich gewesen, das waren Leute, die das nie erlaubt hätten. Der Haushalt war damals noch hart und streng, sehr patriarchalisch, viel patriarchalischer als in den nördlichen Teilen Europas. Nun lernten sich meine Eltern kennen, als sie aus Wien zurückkamen nach Bulgarien und haben sich ineinander verliebt, weil sie diese gemeinsamen
Erinnerungen an Wien austauschen konnten, und haben Deutsch miteinander gesprochen, was wir Kinder noch nicht verstanden, verstehen Sie? So habe ich in den ersten Jahren meines Lebens Spanisch gesprochen, Bulgarisch in der Umgebung gehört und von meinen Eltern Deutsch, das sie mir aber nicht beibringen wollten, das war ihre Geheimsprache sozusagen, so daß ich deutsche Laute schon sehr früh hörte und es mir furchtbar nahe gegangen ist, daß ich das nicht verstand, und so bin ich immer in ein anderes Zimmer gegangen und hab diese deutschen Laute für mich eingeübt, ohne sie zu verstehen. Verstehen Sie, so war das früh eine Sprache, auf die ich sehr scharf war und die ich haben wollte für mich. Als ich dann sieben war in England, starb mein Vater, und meine Mutter hatte nicht mehr diesen deutschen Gesprächspartner, konnte in ihrer Lieblingssprache mit niemandem reden und hat mir dann eben sehr rasch Deutsch beigebracht, damit ich, sozusagen meinen Vater ersetzend, ich war der älteste Sohn, mit ihr Deutsch sprechen konnte. Dadurch ist mir diese Sprache ungeheuer wertvoll geworden.

Gab es nie einen Zweifel, daß es die Sprache ist, in der Sie sich am besten ausdrücken können?

CANETTI: Nein, nie, sonst könnte ich ja nicht in ihr schreiben.

Aber Sie haben doch auch englisch geschrieben. 


CANETTI:
Ich halte Vorträge in Englisch, aber literarisch verwende ich andere Sprachen als die deutsche nur zum Spaß, schreibe französische Gedichte zum Spaß, die ich aber nie herausgeben würde, schreibe auch spanisch zum Vergnügen, aber das, was ich wirklich mache, mache ich deutsch, nicht nur, weil das die Sprache ist, in der ich meine Methode hatte, zu schreiben, von früh an. Es kommen auch andere Sachen dazu, die Ihnen vielleicht sonderbar vorkommen werden. Ich neige sonst nicht zur historischen Erklärung von Dingen, aber es spielt hier schon eine Rolle. Meine Vorfahren haben Spanien im 15. Jahrhundert verlassen, sind vertrieben worden in die Türkei, haben aber ihr Spanisch immer behalten, und zwar ganz rein, das war immer da.

Waren das auch Kaufleute?

CANETTI
: Ja ja, natürlich, das waren alles gutgestellte Kaufleute, denen es eigentlich sehr gut ging in der Türkei, da gab's keine Gettos, da haben die Juden sehr gut und sehr frei gelebt. Die Türken haben die Juden dort verwendet, um ihre Balkanslawen zu unterdrücken, die haben sie sozusagen partizipieren lassen an ihren herrschaftlichen Allüren. Also ging es ihnen sehr gut dort. Aber sie haben ihr Spanisch behalten, hatten ihre alten spanischen Balladen, Sprichwörter, Lieder, das war alles da, und zwar vollkommen archaisch und ohne weitere Entwicklung. Als Kind hörte ich diese Dinge, und dann kam ich nach Wien, und es kam die zweite große Judenvertreibung, wahrscheinlich war es da für mich ganz selbstverständlich, daß ich nun an meiner deutschen Sprache genauso festhalte wie meine Vorfahren an ihrer spanischen. Es ist eine merkwürdige Konstellation, daß man beide Vertreibungen sprachlich in sich vereinigt. Ich bin die einzige literarische Person, von der ich weiß, die diese beiden Dinge in sich enthält ... Und dann kam auch Stolz dazu, daß ich mir nicht von Hitler vorschreiben lassen wollte, in welcher Sprache ich schreibe. In England hätte ich, als ich hinkam, sehr leicht auch englisch schreiben können, ich konnte ja Englisch schon vorher. Aber ich habe gerade in dieser Zeit, die völlig hoffnungslos war, im Krieg, nicht im Traum daran gedacht, anders zu schreiben. Ich hab damals an "Masse und Macht" gearbeitet und hab nur deutsch weitergemacht. Alle meine Freunde haben gesagt, ich sei verrückt. Viele Emigranten, die ich kannte, haben versucht, englisch zu schreiben, das ist meist sehr kläglich ausgefallen, manchmal ist es gelungen, aber ich wollte nicht. Es ging mir sehr schlecht, aber das war wirklich eine Frage des Stolzes, nicht nur der Liebe zur Sprache.